Seit die Finanzindustrie dem Omnichannel-Ansatz folgt, ist die Bank oder Versicherung mit der Frage konfrontiert, auf welchem Kanal sie ihre Kundschaft mit welchen Informationen am besten erreicht und am meisten Wirkung erzielt. Das in der Finanzbranche geläufige «KYC» (Know your customer), die vorgeschriebene Legitimationsprüfung für Neukunden zur Verhinderung von Geldwäscherei oder ähnlichen Delikten, erhält in diesem Licht eine neue Dimension, die ins Marketing und in den Vertrieb hineinreicht. Denn wenn das Finanzinstitut seinen Kunden wirklich kennt, kann es ihm zum geeignetsten Zeitpunkt auf dem geeignetsten Kanal die passendste Information zur passendsten Dienstleistung bereitstellen. Dazu müssen sie die Bedürfnisse und Wünsche des Kunden antizipieren können.
Wunschdetektor «Machine Learning»
Bei der Antizipation von Kundenbedürfnissen kann Machine Learning eine tragende Rolle spielen. Algorithmen können aus hohen Datenmengen Muster erkennen und daraus lernen, welche Anzeichen auf welche Interessen oder Vorhaben hindeuten – etwa einen Hauskauf oder eine neue Versicherung nach kürzlich erfolgter Eheschliessung. Entsprechend können dem Kunden frühzeitig Hypothekarangebote oder eine Familienzusatzversicherung angeboten werden. Bank oder Versicherung können so den gesamten Lifecycle in der Bedürfnisabdeckung ihrer Kunden managen: von der Bedürfniserkennung und der proaktiven Sensibilisierung auf Produkte oder Dienstleistungen über deren Verkauf bis hin zum so genannten Churn Management, indem die Abwanderungswilligkeit eines Kunden beizeiten entdeckt und darauf angemessen reagiert werden kann, bevor er seinen Ausstieg in die Tat umsetzt. Das «Desire Lifecycle Management» kann somit zu einem sehr wichtigen Instrument zur Kundenbindung und zum Cross- bzw. Upselling werden.
Lifecyclemodelling für Hypothekenabschluss als praktisches Beispiel
Im ersten Schritt ist das Machine Learning unterstützend im Einsatz, indem es als zusätzliche Informationsquelle des Kundenberaters dient. Es werden erste sporadische Analysen durchgeführt – etwa für eine anstehende Kreditkarten- oder Anlageprodukt-Kampagne. Dabei wird ermittelt, welche Zielkunden der Kundenberater anvisieren sollte. Auf diese projektbezogene Unterstützung des Kundenberaters folgt im nächsten Schritt, dass die Modellierung automatisiert und regelmässig ausgeführt wird. Die Resultate können dem Kundenberater als zusätzliche Quelle in seinem Alltag dienen. An diesem Schritt von der einmaligen und sporadischen zur regelmässigen Analyse, also an der Operationalisierung des Machine-Learning-Modelle, arbeiten derzeit die grösseren Kantonalbanken. Im Erfolgsfall wird das Algorithmen gesteuerte KYC für das Marketing mehr und mehr an Bedeutung zunehmen und antizipieren, bei welchen Kunden welche Informationen zu Produkten oder Dienstleistungen Potenzial haben. Im Bedarfsfall wird die automatisierte Verarbeitung angestossen. Beispielsweise spielt das System bei ersten Anzeichen auf Interesse an einem Hauskauf eigenständig beim nächsten Login im E-Banking ein Banner mit Hypothekenangeboten aus oder spricht den Kunden via Chatbot in der mobilen App an. Letzteres ist grösstenteils noch eine Vision, denn für viele kleinere und mittlere Banken ist bereits der Übergang von «KYC ohne Machine Learning (ML)» zu den durch ML generierten Vorschlägen an den Kundenberater ein grosser Schritt. Dem Initialaufwand steht jedoch gegenüber, dass die Künstliche Intelligenz eine ungleich grössere Menge an Informationen zu einer Vielzahl an Kunden beherrschen kann als ein einzelner Kundenberater.
Inventx hat derartige Lifecycles bereits im Rahmen eines Beratungsprojektes mit einer Schweizer Kantonalbank modelliert. Mit verschiedenen Machine-Learning- und Deep-Learning-Algorithmen wurden Hypothekarabschlüsse in der Vergangenheit analysiert und auf dieser Basis künftige prognostiziert. In einer Pilotfiliale wird seit Anfang Jahr das finalisierte Modell getestet bzw. werden dessen Resultate in der Beratung verwendet, um die Kunden personalisierter ansprechen zu können und die Kundenberater zu unterstützen. Eine Weiterführung dieses Projekts ist geplant.
Die Operationalisierung der ML-Modelle ist seit neuestem als Service auf der ix.OpenFinancePlattform verfügbar. Was dieser Service über die reine Infrastruktur hinaus beinhaltet, ist Gegenstand des nächsten Blogbeitrags.