Moneycab: Herr Keller, nach 8.5 Jahren bei Google, zuletzt als DACH-Chef von Google Workspace bei Google Cloud, und einem Jahr als COO bei Inventx, sind Sie nun bereits über ein Jahr CEO des Unternehmens. Was waren in diesem Jahr die dringlichsten Änderungen, die Sie vorgenommen, die wichtigsten Entscheidungen, die Sie getroffen haben?
Pascal Keller: Bereits in meiner Zeit als COO hatten mir die beiden Gründer Gregor Stücheli und Hans Nagel nach und nach mehr operative Aufgaben übertragen und mir den «Vortritt» auf internen Plattformen überlassen, um den Draht zu den Mitarbeitenden aufzubauen.
Die verjüngte und verkleinerte Geschäftsleitung, die mit meinem Antritt als CEO die Gesamtverantwortung übernahm, hatte sich bereits über die Monate davor schrittweise formiert, so dass wir per Stichtag zwar ein neues, aber bereits eingespieltes Team bildeten. Insofern gab es keine dringlichen Kurskorrekturen. Aber wir konnten relativ rasch eigene Akzente setzen – etwa, indem wir unsere eigene Führungsphilosophie weiterentwickelt haben und diese nun nach und nach mit aller Authentizität in der Organisation verankern.
Uns ist es sehr wichtig, die hohe Motivation innerhalb der Inventx auch hochzuhalten und Entrepreneurship zu fördern. Für die Weiterentwicklung unseres Serviceportfolios haben wir unsere Organisationsstrukturen angepasst und neue Cluster etwa für unsere Wachstumsfelder Workplace oder Multicloud geschaffen. Für diese Geschäftsfelder konnten wir auch wichtige neue Kunden gewinnen, die unsere weitere Entwicklung im 2023 und darüber hinaus stark mitprägen werden.
Im 2022 haben wir auch unsere Rekrutierung stark ausgebaut und beschleunigt, damit wir unseren Kunden einen Schritt voraus sind und quasi als IT-Talent-Aggregator für die Finanzbranche ihren wachsenden Bedarf an Unterstützung bei der Digitalisierung decken können. Mit unserem «Hiring Boost» konnten wir im 2022 über 120 neue Fachkräfte gewinnen. Gleichzeitig investieren wir stark in unsere bestehenden Talente, zum Beispiel mit neuen Entwicklungspfaden und Karriereplanungen, damit wir als Arbeitgeberin noch attraktiver sind. Eine weitere wichtige Entscheidung in diesem Zusammenhang war der Aufbau unserer Präsenz in der Hauptstadtregion Bern.
In Bern haben Sie den vierten Standort nach Chur, Zürich und St.Gallen eröffnet. Nach welchen Kriterien gehen Sie bei der Expansion vor, welche nächsten Standorte stehen auf der Wunschliste?
Unser Prinzip heisst «Follow the Customer». Interaktion mit unseren Kunden ist neben Swissness und Innovation einer unserer grundlegenden Werte. Wir haben bereits einige Kunden mit flächendeckender Präsenz in der ganzen Deutschschweiz; denen sind wir nun geographisch noch näher gerückt. Und wir haben uns gleichzeitig den Talentpool an IT-Fachkräften in der gesamten Region im Dreieck Fribourg-Bern-Solothurn erschlossen.
Auch mit dem Zugewinn der Versicherung Visana wachsen wir personell in Bern nun bereits erheblich und wollen diese Dynamik beibehalten. Ein weiterer Standort drängt sich im Moment aber noch nicht auf. Dafür investieren wir weiter in unsere jetzigen Standorte, zum Beispiel mit unserem Neubau in Chur, um unseren Talenten optimale Umgebungen zu bieten.
Bis anhin stammen Ihre Kunden vor allem aus dem Finanzbereich. Wie wird sich das mit der Niederlassung Bern ändern, welche weiteren Segmente möchten Sie gewinnen und welche speziellen Angebote haben Sie für andere Industrien?
Bei den Banken sind wir als gewichtige Playerin etabliert. Aber auch im Versicherungssektor wächst unser Footprint. Neben unserer langjährigen Kundin Swiss Life, die wir bereits 2018 in die Cloud führen durften, sind wir seit 2022 auch IT-Betriebspartnerin der Krankenversicherung KPT. Diese hat noch während der Migration auf unsere ix.OpenFinancePlattform (ix.OFP) entschieden, die Zusammenarbeit mit uns auszubauen, und bezieht nun auch Digital Workplaces von der Inventx. Mit der Adaption unserer ix.OFP auf die Bedürfnisse von Versicherern rechnen wir uns grosse Chancen aus, unsere Banking-Erfolgsstory auch im Versicherungsbereich zu wiederholen. Der Zuschlag der Visana ist ein weiterer Beleg, dass uns dies gelingen wird.
Unser konsequenter Branchenfokus auf Banken und Versicherungen macht uns zu einer starken Digitalisierungspartnerin für unsere Kunden, da wir ihr Geschäft verstehen. Diesen Fokus werden wir beibehalten und ausbauen.
Während andere Unternehmen ihre Mitarbeitenden nach der Pandemie wieder in die Büros zurück beordern, stellen Sie es ihnen schon seit längerem frei, von wo aus sie arbeiten. Wie sind Ihre Erfahrungen damit, wie wird sichergestellt, dass sich trotzdem eine verbindende und verbindliche Firmenkultur ergibt?
Inventx legt grossen Wert auf den Team-Spirit. Flache Hierarchien mit viel eigenem Gestaltungsspielraum und flexible Arbeits- und Teilzeitmodelle sind Kriterien an das Arbeitsumfeld, welche die junge Generation bei ihrem Arbeitgeber als mittlerweile selbstverständlich erachtet. Unsere Firmenanlässe, an denen wir die Mitarbeitenden zusammenführen, sind legendär – Skiweekends, Sommernachtsfest, Team-Apéros, unsere Challenges. Das verbindet.
Für den Fluss an Informationen, welche die gesamte Belegschaft angehen, halten wir jede Woche ein CEO-Update ab, an dem transparent hinter die Kulissen geschaut wird; natürlich mit dem Hinweis darauf, dass es sich um Interna handelt. Und die Mitarbeitenden wissen diese Offenheit zu schätzen, fühlen sich eingebunden. Fast die Hälfte ist jeden Montagnachmittag live dabei und viele weitere schauen den Replay.
Weiter ist unser Ziel, unsere Büros so attraktiv als Begegnungsräume zu gestalten, dass möglichst alle gerne Zeit dort mit ihren Kolleginnen und Kollegen verbringen. Quasi schon fast ein Office Home als Alternative zum Home-Office. Anreize sind besser als Vorschriften.
Eines der Ziele mit der Verjüngung der Geschäftsleitung war es, das Unternehmen als Arbeitgeberin attraktiver für junge Talente zu machen. Sehen Sie hier schon Auswirkungen und wie attraktiv ist Inventx für Bewerberinnen, mit Führungsgremien (Geschäftsleitung und Verwaltungsrat), die ausschliesslich aus Männern bestehen?
Talente suchen vor allem eine spannende und sinnstiftende Tätigkeit in einem positiven Umfeld, das sie fördert und weiterbringt, und wo sie spürbar etwas bewegen können. Als KMU mit klarem Fokus, flachen Hierarchien und kurzen Entscheidungswegen sind wir hier gut aufgestellt.
Bei der Inventx arbeiten bereits über 70 Frauen – sowohl als Systemingenieurinnen, Beraterinnen oder Applikationsmanagerinnen wie auch als Fachverantwortliche, Team Leaders, oder Mitglieder des Strategy Leadership Teams, unserer erweiterten Geschäftsleitung. Aber damit sind wir noch längst nicht zufrieden. Es ist unser erklärtes Ziel, noch mehr Frauen für uns zu begeistern. Hierfür suchen wir auch den Schulterschluss in der IT-Branche, wo der weibliche Nachwuchs generell stark untervertreten ist. Wir wollen in entsprechenden «Women in Tech»-Kampagnen aktiv mitwirken.
Künstliche Intelligenz und selbstlernende Algorithmen fehlen in keiner Marketingbroschüre ernstzunehmender IT-Unternehmen. Wie setzen Sie diese Technologien konkret in den Angeboten von Inventx ein, welche Resultate erzielen Sie damit?
KI und Machine Learning setzen wir mittlerweile breit in unseren Cybersecurity-Lösungen für Fraud-Detection ein. Wir arbeiten mit einer Voice-Intelligence-Plattform und an Lösungen für Conversational Banking auf Basis von KI. Erste Kunden haben bereits Voice Bots produktiv im Einsatz, die auch Schweizerdeutsch verstehen. In unserem ix.Lab bearbeiten wir «Machine Learning for Operations» als ein Fokusthema.
Ziel ist dabei, die Messdaten aus dem Systembetrieb für die laufende Optimierung der Konfigurationen sowie für Predictive Maintenance zu nutzen. Den Daten und wie wir sie verarbeiten, um sie in Informationen und damit in Wissen über die Bedürfnisse der Kunden unserer Kunden zu verwandeln, gehört eindeutig die Zukunft.
Welche Technologien haben nach Ihrer Ansicht das Potential, unser Leben in den kommenden Jahren entscheidend zu verändern?
Wir haben unser ix.Lab auf- und ausgebaut, damit es sich darauf konzentrieren kann, die Technologien «der nächsten Geländekammer» zu identifizieren und Machbarkeitsstudien sowie Proof of Concepts zu entwickeln. Dazu weiten wir auch unsere Zusammenarbeit mit führenden (Fach-)Hochschulen aus.
An unserer ersten ix.perience, dem Inventx Banken- und Versicherungsforum, das wir im Oktober letzten Jahres abhielten, präsentierten sich unsere Partner mit Innovation unter Einsatz von Augmented-, Virtual- & Mixed-Reality-Technologien. Auch denke ich, dass die Blockchain ihr Potenzial, gerade im Finanzbereich, noch längst nicht ausgereizt hat, und im Quantencomputing sehe ich des Weiteren ein Riesenpotenzial.
Startups versuchen sich, auch dank der zunehmend offenen Plattformen (zum Beispiel Open Finance), meist mit attraktiven mobilen Diensten und in die Interaktion mit Kunden einzuschalten. Wie gestalten Sie die Zusammenarbeit mit Startups, was überwiegt, Kooperation und Wettbewerb?
Wir nennen es Co-opetition – Wettbewerb belebt, aber heutzutage entsteht viel Innovation erst durch Ko-Innovation oder gar Ko-Investition. Für FinTechs ist unsere Open Finance Plattform mit ihrer enormen Skalierbarkeit für Entwicklungs- und Testumgebungen in einem auf die Finanzindustrie ausgerichteten Setup sehr interessant – und auch unsere Rolle als Systemintegratorin, Digitalisierungspartnerin und Türöffnerin zu den Banken und Versicherungen.
Bei Google konnten Sie bezüglich Innovation und Ressourcen aus den tiefen Taschen eines weltweiten Marktführers schöpfen. Was möchten Sie von Ihrer Google-Zeit bei Inventx einbringen, welche wichtigsten Ziele möchten Sie in den kommenden Jahren erreichen?
Bei Google hat mich immer fasziniert, wie trotz der weltumspannenden Grösse der Startup-Gedanke verankert geblieben ist. Bei Inventx habe ich etwas Ähnliches vorgefunden. Das gilt es zu bewahren.
Zum Schluss des Interviews haben Sie zwei Wünsche frei, wie sehen die aus?
Ich wünsche uns, unseren Kundinnen und Kunden und vor allem unseren Mitarbeitenden ein erfolgreiches und erfreuliches Jahr 2023 – mit vielen positiven Erlebnissen und der Gewissheit, dass wir uns gegenseitig stets voller Vertrauen, Wohlwollen und hoher Motivation weiter voranbringen.
Und im «bigger picture» wünsche ich mir, dass sich auf der Welt statt des Rechts des Stärkeren wieder mehr Respekt für das Recht, den Willen und die gemeinsamen Werte der Menschen durchsetzt.